artpreview · 2015

Eine Zusammenstellung von Texten zu Ausstellungen
in der Sezession Nordwest e.V., Wilhelmshaven,
von Alexander Langkals

November 2015

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Margareta Hihn, Letztes Abendmahl

Papier. Objekt – Skulptur – Collage

Benutzte, ausgediente und "entsorgte" Papiere unterschiedlichster Art sind Ausgangsmaterial für zwei- und dreidimensionale Kunstwerke von Margareta Hihn.

Anscheinend wahllos aus einer unsichtbaren Menge herausgepickt, scheinen die „Bootspeople“ in ein einfaches Boot hineingeworfen zu sein und sind wie hilflose Spielbälle auf sie einwirkenden Kräften ausgesetzt. Ein Bild, das in einer bedrückend-unendlichen Wiederholungsschleife in den Medien transportiert wird. Neu ist die Thematik nicht, seit Jahren riskieren Menschen ihr Leben auf der Flucht über das Mittelmeer. Nur wurde diese Realität häufig ausgeblendet, solange „wir“ nicht unmittelbar betroffen waren. Zu denjenigen, die hinschauten und sich gedanklich und künstlerisch mit diesem Thema befassten, zählt Margareta Hihn. Ihre „Bootspeople“ haben bereits 2013 ihr Boot bestiegen.

Seit gut 20 Jahren erzeugt Margareta Hihn aus altem, benutztem Papier, Karton und Pappe Papiermaché, den Grundstoff ihrer Arbeiten – zweidimensionale Collagen wie dreidimensionale Objekte und Skulpturen. Unter dem Titel Papier. Objekt – Skulptur – Collage präsentiert sie vom 5. November bis zum 1. Dezember eine Auswahl in der Sezession Nordwest.

Je nach Ausgangsmaterial nimmt das Papiermaché unterschiedliche Farbtönungen an. Die Erzeugung des Papierbreis durch Zerreißen, Schreddern und Einweichen – ein sinnlicher Prozess, wie die Künstlerin formuliert – bildet bis zum fertigen Kunstwerk ein einheitliches Kontinuum. Die nasse Papiermasse wird farbkompositorisch arrangiert. Zum Trocknen etwa auf die Trommel einer alten Wäscheschleuder gelegt, ergibt sich eine besondere Oberflächenstruktur. Malerische und zeichnerische Elemente, die in das noch weiche Material eingelegt oder „graviert“ werden, sind Teil dieses Prozesses. So sind in diesem Jahr die Collage-Serien Windig und terre et mer entstanden: abstrahierte Segler und rote Bojen vor einem lichtgrauen Horizont einerseits und fremdartige Gewächse mit roten „Blütenköpfen“ andererseits.

Objekte und Installationen sind in einem weiten Feld von realbezüglich bis irreal angesiedelt. Befremdlich schlängelt sich eine Unmenge benutzter Filtertüten zu einer Schleife. Neben dem freien Spiel künstlerischen Gestaltens verweist die Künstlerin mit ihrer Arbeit Bedrohte Art Nr. 4 auf nicht unironische Weise auf den Verdrängungsprozess der klassischen Filtertüte durch Kapsel- und Kaffeepad-Automaten. Ungleich realistischer erscheinen mehrteilige Installationen wie Putzteufel oder Waschbecken (beide 2015), wohingegen das in einem Objektkasten befindliche „t“ neben einer ironischen Komponente eine hohe formale Qualität beinhaltet. Komponiert ist diese Arbeit aus gebrauchten Teebeuteln verschiedener Sorten.

Margareta Hihn belässt es nicht bei einem ironischen Spiel mit Inhalten, sondern zielt auch auf tiefliegende, grundlegende Bedeutungsschichten wie im Letztes Abendmahl von 2013. Die Beschädigungen der Teller verweisen auf einer höheren Ebene auf eine ganze Palette von Verletzungen in Zusammenhang mit Religion: sowohl ihrer selbst wie ihrer Anhänger als auch von ihr ausgeübten. Letztlich beinhalten die geflickten Teller die Hoffnung auf „Heilung“ und symbolisieren einen (menschlichen) Wert, der auch durch Verletzung und Beschädigung nicht zerstört wird.

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Margareta Hihn, Bootspeople

Margareta Hihn, windig

Margareta Hihn, Putzteufel

Margareta Hihn, Bedrohte Art Nr. 4

Oktober 2015

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Peter Geithe, Japanische Landschaft (Ausschnitt)

WWW World Wide Works

Das klassische Thema Reisebilder hat Peter Geithe im Laufe von über 20 Jahren sehr individuell interpretiert und abhängig vom Reiseziel in spezifische Arbeiten einfließen lassen.

Reisebilder sind eine besondere Spezies in der bildenden Kunst, die Künstler über viele Jahrhunderte in nahen wie fernen Ländern schufen. Sie verließen die Heimat, um wie Dürer auf seinen Italienreisen das Selbstverständnis namhafter Renaissancekünstler sowie fremde Techniken und Malweisen zu erforschen. Im 18. Jahrhundert schufen Maler wie die Canalettos oder Guardi Veduten von Venedig, Dresden Wien und Warschau für den Adel und ein reise- und bildungsfreudiges englisches Publikum. Auf zahlreichen Reisen durch Europa hielt Turner nicht nur bedeutende historische, architektonische und landschaftliche Sehenswürdigkeiten fest; das südliche Licht Italiens veranlasste ihn zu einem radikalen Wandel in seiner Malerei. Nazarener und „Deutschrömer“ zogen für Monate und länger nach Italien, um sich an antiker wie gegenwärtiger römischer Kunst zu bilden – und dabei die fremde Kultur mit ihrem besonderen Lebensgefühl zu genießen.

Spätestens mit dem Siegeszug der Fotografie und letztlich ihrer massenhaften Verbreitung durch das Internet haben klassische Reisebilder ihre einstige Funktion verloren und sind nur mehr für die persönliche Erinnerung relevant. Im Gegenzug beinhaltet das Möglichkeiten ganz neuer, individueller künstlerischer Wege – wie es etwa Peter Geithe seit mittlerweile einem Vierteljahrhundert macht. Einen Einblick in seinen breit gefächerten Schaffenskomplex bietet er unter dem Titel WWW – World Wide Works vom 1. Oktober bis zum 3. November in der Virchowstraße 37. Mit eigenen Worten umreißt er seine „Reisebilder“:

„‚Der kürzeste Weg zu sich selbst führt einmal um die Welt herum.‘ Dieser Satz des reisenden Philosophen Hermann Alexander Graf Kayserling (1880–1946) ist für meine Reisefreude und die Lust auf Entdeckungsreise zu gehen, mein Leitfaden.

Mit einem Skizzenblock und Material für die kreative Beschäftigung auf meinen Reisen bin ich immer ausgerüstet. Es entstehen häufig fertige kleine Arbeiten, aber auch schnelle Skizzen, die im heimischen Atelier ausgearbeitet werden. 1990 reizte eine Ägyptenreise zu schnellen Zeichnungen von Moscheen und einfachen Häusern auf Löschpapier direkt vor Ort. Das war der Beginn für eine kontinuierliche Beschäftigung mit diesem ‚Reisetagebuch‘. Seit 25 Jahren ist die Sammlung auf ca. 600 Arbeiten angewachsen.

Auf einer Ausstellungsreise in Japan habe ich abends im Haus meines japanischen Freundes in einem kleinen Gästezimmer auf dem Fußboden gesessen und kleine Landschaftscollagen aus Zeitungsbeilagen geklebt. Eine Ausstellungseinladung nach Russland zum Jubiläum des Fine Art Museums im sibirischen Surgut führte auf einen Ausflug in die Taiga zu einheimischen Chanten. Kleine Bleistiftportraits erinnern an diese freundlichen und liebenswerten Nomaden. 2015 motivierte eine Schiffsreise nach Island zu stark farbigen Landschaftseindrücken mit Acryl und Bauxit.

Der große Reiz, sich auf die unterschiedlichsten Seherfahrungen der jeweiligen Orte einzulassen, führte zu vielfältigen kreativen Ausdrucksformen der kleinen Arbeiten, die das Reisetagebuch der besonderen ART bilden.“

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Peter Geithe, Lofoten

Peter Geithe, Japanische Landschaft IV

Peter Geithe, Japanische Landschaft VII

Peter Geithe, Berlin-Lanzarote

September 2015

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Alfred Kaufner, o. T., Juni 2011 (Ausschnitt)

Variationen mit Glas

Licht als Materie im Zusammenspiel mit klassischen Materialien der Bildhauerei ist das Spezifikum der plastischen Arbeiten von Alfred Kaufner.

Die sachliche Beschreibung der plastischen Arbeiten von Alfred Kaufner – vom 3. bis zum 29. September in der Sezession Nordwest ausgestellt – als gegenstandslose, geradlinige, rechtwinklige und streng geschlossene Körper aus einer Kombination unterschiedlicher Materialien mit planen Oberflächen lässt kaum etwas Besonderes vermuten. Doch ganz anders ist deren Wirkung, sobald man ihnen begegnet.

Der in Leer lebende Künstler ist dort 1949 geboren, studierte Lehramt mit Schwerpunkt Chemie, dem er ein Physikstudium anschloss. Hierbei setzte er sich intensiv mit den physikalischen Eigenschaften des Lichts und der Chemie der Farbe auseinander. Seit 1993 betreibt er sein Atelier in seiner Heimatstadt und erhielt von dieser im Jahr 2000 den Kunstpreis „Offenes Atelier“. Ausstellungen führten ihn auch weit über die heimatlichen Gefilde hinaus, u.a. in die Niederlande, nach Litauen oder nach England.

Der Ausstellungstitel Variationen mit Glas zielt auf das zentrale Material seiner Arbeiten. Wiederholt wurde in diesem Zusammenhang über dessen besondere Eigenschaft als ein fließendes Material geschrieben, doch spielt diese hier keine Rolle, da sie in der Funktion als künstlerisches Objekt nicht bemerkbar ist. Ganz im Gegensatz dazu steht seine optische Eigenschaft, die Grundlage und zentrales Anliegen der künstlerischen Beschäftigung mit dem Glas bildet: die Sichtbarmachung unterschiedlichster Lichtwirkungen.

Während klassische Materialien der Bildhauerei wie Holz, Stein oder Metalle, die Kaufner ebenfalls nutzt und mit Glas kombiniert, in ihrer Opakheit Licht „schlucken“ oder allenfalls reflektieren, lässt Glas es passieren. Es dringt hindurch und kann – gezielt – gebrochen oder gefärbt werden. Seit Jahrhunderten prägt farbiges bzw. bemaltes Glas eine künstlerische Gattung: die Glasmalerei mit ihren vor allem in gotischen Kathedralen prachtvoll leuchtenden Bildern. Dass diese Kunst nicht ausgestorben ist, sondern ganz im Gegenteil heute eine große „Renaissance“ erfährt, ist weltweit an zahllosen auch monumentalen, modernen Beispielen im öffentlichen Raum ersichtlich.

Modern unter mehreren Gesichtspunkten ist die Auseinandersetzung Alfred Kaufners mit dem Phänomen Licht durch bzw. mit dem Medium Glas. In aufwendigen und selbst entwickelten Verfahrensweisen bearbeitet er die Gläser, um unterschiedlichste „Facetten“ und Effekte des Lichts augenscheinlich zu machen. So trägt er in wiederholten Prozeduren Metallpartikel auf, verwendet Lösungsmittel, Lacke und Bindemittel, die teilweise auch wieder entfernt werden, um immer neue und überraschende Ergebnisse zu erzielen.

Über Jahrhunderte haben Gelehrte auf unterschiedlichste Weise das Phänomen Licht zu erklären versucht. Irgendwann einmal als Teilchenmodell, also als tatsächlich existente Materie, oder mit Wellentheorie, also als eine Form von fließender Energie. Wie auch immer die Naturwissenschaften Licht erklären – es bleibt, sofern wir es zu verstehen versuchen, ein großes Faszinosum. Ihm widmet Alfred Kaufner auch in grafischen Arbeiten einen eigenen Raum.

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Alfred Kaufner, o. T., Juni 2011

Alfred Kaufner, o. T., Mai 2013

Alfred Kaufner, o. T., März 2013

Alfred Kaufner, o. T., März 2013

Juli 2015

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Renate Fäth, Graubraun (Ausschnitt)

Jahresgaben

Die Ausstellung dokumentiert ein weites Feld unterschiedlichen Schaffens aktiver Mitglieder der Sezession Nordwest.

Zum wiederholten Male stellt die Sezession Nordwest in den Sommermonaten ab dem 2. Juli Arbeiten aktiver Mitglieder aus. Unter dem Titel Jahresgaben sind es ausgewählte Werke von Renate Ai, Sigrid Bahrenburg, Margot Drung, Anne Dück von Essen, Renate Fäth, Peter Geithe, Angelika Glaub, Hilke E. Helmich, Margaretha Hihn, Klaus-Jürgen Maiwald, Christa Marxfeld, Ute Meyer, Bernd Nöhre, Christian Ross, Kurt W. Seidel, Michael Schildmann, Brigitte Schmitz, Helmut Stix und Jürgen Wild.

Die Präsentation von Kunstwerken einer großen Urheberschaft ermöglicht interessante Bezüge, die neben unterschiedlichen Themen und Techniken auch ganz verschiedene Auffassungen von Malerei und Zeichnung offenbaren. So lässt sich – gerade durch die unmittelbaren Gegenüberstellungen – das jeweils individuell-Spezifische etwa der zeichnerischen Dominanz bei Sigrid Bahrenburg gegenüber dem malerischen Primat bei Renate Fäth herausstellen. Während die Erstgenannte mit geübtem, lockerem Strich die menschliche Figur auch in komplizierten Haltungen sowie aus ungewöhnlichen Blickwinkeln erfasst und mit Farbe „lediglich“ als reinen Tonwerten Stimmungen schafft, besteht die künstlerische Welt von Renate Fäth aus reiner Malerei. Ohne Zeichnung und selbst ohne Farben, auf Schwarz- und Weißwerte und minimalste Tönungen reduziert, zaubert sie auf einen roh gerissenen Bildträger den Eindruck von Gischt bekrönter Wellen, die vor dunklen Wolken aus horizontloser Tiefe auf den Betrachter zulaufen.

Farbe – einmal als Pigment, flächig aufgetragen mit Pinsel, Rakel oder Spachtel, sowie als durchgefärbte Papiere oder Gewebe, die gerissen überlappend bzw. in mehreren Schichten aufgetragen werden: Das sind Techniken von Brigitte Schmitz einerseits und Renate Ai andererseits. Für beide ist die Farbe das Hauptanliegen ihrer künstlerischen Arbeit. Konkrete Themen oder reale Motivvorgaben spielen für sie kaum eine Rolle.

Zwischen diesen Positionen bewegen sich Arbeiten wie Sommertag von Margot Drung. Farbe, Form, Linie und Struktur sind hier wohl ausgewogen und Mittel, um persönliche Eindrücke zu verbildlichen. Wie bei den vorangegangenen Bildern ist auch hier der Bezug zur Realität von nachrangiger Bedeutung.

Die Gruppenausstellung mit noch weiteren künstle-rischen Spielarten wie Fotografie, Grafik und Objektkunst läuft bis zum Ausklang des Juli im Schau-fenster für regionale Kunst in der Virchowstraße 37.

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Margot Drung, Sommertag

Renate Ai, o. T.

Renate Fäth, Graubraun

Sigrid Bahrenburg, o. T.

Juni 2015

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Hartmut Bleß, Himmelnochmal (Ausschnitt)

Landschaften und Stillleben

Schwebezustände zwischen abstrahierter Wiedererkennbarkeit und vollständiger Auflösung bannt Hartmut Bleß in fließenden und pastosen Farbaufträgen auf die Leinwand.

Kräftige Farben mit sichtbaren Spuren ihres Auftrages; teils mehrfache, nicht mehr auszumachende Übermalungen; neben pastose auch dünnflüssigere Schichten und Partien, die in verschiedenen Bereichen als Fließspuren Akzente setzen: Das sind typische Kennzeichen der Malerei von Hartmut Bleß aus Großefehn, der vom 4. bis zum 30. Juni aktuelle Arbeiten in der Sezession Nordwest präsentiert.

Die ungegenständlichen Bilder zeichnen sich durch ausgewogene kompositorische Ordnungen und Gefüge aus, die ein großes Spektrum überwiegend harmo-nischer Klänge erzeugen. Doch gibt es daneben immer wieder Momente von Störungen, Unterbrechungen, Dissonanzen und Widersprüchen. Mit den Worten des Künstlers: „Ich finde grundsätzlich, dass Kunst nicht (zu) schön sein darf. Das macht sie verdächtig. Kunst muss in irgendeiner Weise auch ein Totentanz sein, sie soll nicht nur die angenehme Gefühlswelt ansprechen.“

1953 in Sandhorst bei Aurich geboren, machte Hartmut Bleß das Fachabitur an der Fachoberschule für Gestaltung in Bremen. Sein späterer Werdegang war damit bereits angelegt. Das Studium der Freien Malerei an der Hochschule der Künste in Berlin beschloss er als Meisterschüler bei Prof. Klaus Fußmann. Neben verschiedenen Tätigkeiten wie etwa an der Malschule der Kunsthalle Emden und der Ländlichen Akademie Krummhörn hat er sich auf die Vermittlung von Kunst und künstlerischen Techniken etwa an der Kreisvolks-hochschule Aurich und in Jugendprojektwerkstätten konzentriert. Seit 2001 hat er sein Hauptaugenmerk wieder auf die eigene Malerei und seit 2003 zudem auf Bildhauerei gerichtet.

Während Fußmann vornehmlich für seine starkfarbigen Landschafts- und Blumenbilder mit hohem Realitäts- bezug bekannt ist, bewegte sich Bleß schon während des Studiums weg von der Gegenständlichkeit hin zur informellen Malerei. Etwa ab 2004 brach allerdings – zunächst verhalten – eine Gegenständlichkeit Bahn, die Anklänge an Stillleben und Landschaften besitzt. Vor allem die heimatliche, ostfriesische Landschaft ist es, die er in vielen Bildern thematisiert, wobei das Verhältnis von Annäherung an den naturalistischen Charakter der Natur einerseits und Abstraktion bis an die Grenze der Gegenstandslosigkeit andererseits sehr variabel sein kann.

Arbeiten wie Himmelnochmal oder Landschaft Z von 2015 evozieren nicht zuletzt durch den hohen Materialgehalt an Farbe einen „Perspektivwechsel“ bzw. ein „Kippen“ von Ansicht zu Aufsicht oder umgekehrt. Ganz gleich, ob vermeintlich Luft, Wasser oder Boden „dargestellt“ ist: Die Materie bestimmt nicht den Farbauftrag; und er verlockt stets, mit den Fingern die Bilder Stück für Stück zu erkunden, um dem mit den Augen Gesehenem weiteren Gehalt hinzuzufügen.

Vieles liegt im subjektiven Wahrnehmungsempfinden des Betrachters begründet. Bildtitel fungieren dann wie Ratgeber bzw. Hilfesteller und „führen“ den Betrachter wie eine Art Leitfaden durch die Arbeiten. Ihr Anliegen besteht jedoch kaum darin, den Betrachter in starre Deutungsbahnen zu zwingen. Eher finden sich Ironie und Witz – etwa in Titeln wie Glaube zersetzt Berge oder Abendrot macht Wangen tot.

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Hartmut Bleß, Himmelnochmal

Hartmut Bleß, Landschaft Z

Hartmut Bleß, Spinning Mills

Hartmut Bleß, Abendrot macht Wangen tot

Hartmut Bleß, Stilleben

Mai 2015

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Kriso ten Doornkaat, Der Hase hat Heimweh (Ausschnitt)

Ungeheuer!

Kriso ten Doornkaat fasziniert ihr Publikum mit irrealen Szenerien, die mit großem technischen und künstlerischen Können in einen hohen Realismus eingebettet sind.

„Von allen Tieren interessieren mich die Menschen am wenigsten, diese Ungeheuer!“, so äußert sich Kriso ten Doornkaat, die vom 7. Mai bis zum 2. Juni unter dem Titel Ungeheuer! in der Sezession Nordwest ausstellt.

1960 in Bremen geboren, arbeitete sie u. a. als Artdirektorin in einer Hamburger Werbeagentur. Ihr Studium der Grafik und Malerei an der Hochschule für angewandte Kunst in Wien beendete sie mit Auszeichnung. Sie jobbte als Steinmetz und Tierpräparator wie auch als Vogelwart auf Helgoland und Sylt und lebt seit 1995 in Ostfriesland.

Schon mit vier Jahren verspürte sie einen Drang zum Zeichnen. Und bereits mit fünfzehn stellte sie als Gast des BBK Bremen erstmals aus. Zur Zeichnung gesellen sich Aquarelle, Radierungen und Gemälde sowie Plastiken und Installationen.

Die Zeichnung eines Tieres – neben Mischwesen ein häufiges Motiv ihrer Arbeiten – setzt eine lange Beobachtungsphase voraus, da es – etwa auf der Weide – „… weg ist, ehe man den ersten Strich gemacht hat“. Intensiv beobachtet, um die artspezifischen Charakteristiken eines Tieres (oder Menschen) erfasst zu haben, entsteht das Bild als eine Kopfarbeit: Es können Wochen sein, in denen eine Bildidee im Kopf reift und in der Vorstellung Gestalt annimmt, bis es zur tatsächlichen Ausführung kommt.

Während das Ungeheuer als etwas Bedrohliches, Gefährliches und Angsteinflößendes dem Menschen gegenübersteht, deckt sein Adjektiv ungeheuerlich ein größeres Spektrum ab, das durchaus auch weniger bedrohliche, vielmehr absonderliche, ungewöhnliche und haarsträubende Facetten beinhaltet. So steht, als sei es das Selbstverständlichste der Welt, in Der Hase hat Heimweh ein solcher in einem etwas düsteren Raum und blickt sehnsuchtsvoll durch ein Fenster ins Freie. Die Malweise ist – typisch für Kriso ten Doornkaat – sehr realistisch, mit einer Anmutung, wie sie in frühneuzeitlichen über klassische bis zu neusachlichen Bildern und zeitgenössischen Comics vorzufinden ist.

Aus dieser Verbindung von irrealem Inhalt mit realer Darstellung erwecken Fragen wie: Ist es „nur“ ein gewöhnlicher Hase und wie ist er in diese absurde Situation gelangt? Verkörpert er Eigenschaften, die ihm seit seiner Darstellung ab der Antike zu eigen sind, darunter Lebenskraft, sexuelle Begierde und Fruchtbarkeit, seit dem Mittelalter aber auch Wiedergeburt und Auferstehung. Oder handelt es sich um die Verbildlichung einer persönlichen Metapher?

Rätselhaft erscheinen Figuren wie eine vermeintlich schwebende Wasserleiche in Nach der Flut oder Schneeywitte – Darstellungen, die an Szenenbilder oder Film-Stills komplexer mystisch-fantastischer Geschichten erinnern. Hat letztere ein blindes Auge oder schaut sie mit ihm steil aufwärts, um zu erblicken, wer vom Apfel der Versuchung angelockt, sich am Haken der Unentrinnbarkeit verbeißt. Wirklich ungeheuerlich!

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Kriso ten Doornkaat, Nach der Flut

Kriso ten Doornkaat, Der Hase hat Heimweh

Kriso ten Doornkaat, Schneeywitte

März 2015

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Ulrich Schnelle, o. T., Mischtechnik (Ausschnitt)

Ulrich Schnelle – mal sehen

Fließende Farben und ungebundene Formen regen zu freien Gedankenspielen an. Bildtitel und Textfragmente "provozieren" ein zielgerichtetes Erkennen.

mal sehen – so lautet der Ausstellungstitel –, was da ab dem 5. März in der Sezession präsentiert wird; ob einem flüchtigen Blick eine eingehendere Betrachtung folgt, ob statt achtlos an den Bildern von Ulrich Schnelle vorbeizugehen es sich lohnt, sich Zeit zu nehmen und sich auf sie einzulassen.

Der in Bunde lebende Ulrich Schnelle wurde 1954 in Bünde/NRW geboren. Von 1978 bis 1981 studierte er Malerei an der Hochschule für Kunst und Musik Bremen. Seit 1986 ist er freischaffend tätig, bis zu seinem Umzug nach Bunde im Jahr 2002 in verschiedenen Bremer Ateliers. Seit 1984 hat er in vielen Städten Norddeutschlands, aber auch in Frankfurt und München ausgestellt. Seit 2014 ist er Vorsitzender des BBK-Ostfriesland.

Die eigenen Arbeiten entstehen auf Leinwand, Nessel, HDF, MDF und Papier. Industrielacke, Öl- und Acrylfarben nutzt er in einem weiten Spektrum von wässrig fließend bis hochkonzentriert zäh. Materialien wie Zement werden zur weiteren Oberflächenstrukturierung aufgebracht.

Einzelne von Linienschwüngen begleitete Farbflecken besitzen quasi-kalligrafische Anmutungen. Wörter wie Bildtitel, Wortfragmente oder bis ins Unkenntliche abstrahierte Buchstaben auf anderen Werken stehen in ihrer geradlinigen, kristallinen Grafik in größtmöglichem Gegensatz zu den organisch fließenden Malereien. Während letztere Hintergrund und Fundament des Bildes sind, schweben Schrift und Zeichen auf einer getrennten, in spürbarem Abstand befindlichen Ebene. Nur selten reichen sich die unterschiedlichen Bereiche „die Hände“.

Papierarbeiten besitzen zuweilen eine durchscheinende Transparenz, die ihnen eine fast immaterielle Leichtigkeit verleihen und an Farbenschleier auf Leuchttischen oder an verkleinerte moderne Glasmalereien erinnern. Hier scheint Farbe zu schwimmen, und es entsteht der Eindruck, als fließe sie im nächsten Moment zu anderen Formen, zu neuen Bildern und damit zu anderen Ausdrücken und Aussagen. Der bildgewordene Zustand ist lediglich eine Augenblickaufnahme eines zeitlichen Ablaufs. Was war vorher, was folgt?

In Fällen wie Schlitten führt der Titel zu einem vermeintlichen Erkennen des Bildes. Herrscht zunächst vielleicht der Eindruck vor, auf eine lediglich mit Farbflecken bedeckte Fläche (herab) zu blicken, so fügen sich die braunen Linien auf einmal zu einem seitlich wiedergegebenen Holzschlitten. Weiterhin bleibt jedoch ungewiss, was der „darüber“ befindliche braune und blaue Farbfleck bedeuten – ja, ob sie überhaupt etwas bedeuten sollen. Ein Bildtitel, der somit nicht allein zur „Aufklärung“ beiträgt, sondern fast eher noch weitere Erkenntnisfragen stellt. So spielerisch diese Bilder erscheinen, so sollte sie der Betrachter wahrnehmen und nicht auf eine Entschlüsselung drängen, sondern in vergleichbarer Leichtigkeit sie als Anregung zu freien Gedankenassoziationen verstehen. Dann entfalten die Bilder eine unvermutete Reichhaltigkeit. So schnell sie aufgrund ihres hohen Reduktionsgrads irrtümlicherweise gesehen und auch verstanden werden, so unterschiedlich hingegen wirken sie auf den Betrachter, da sie mit seiner Stimmung arbeiten. Und diese kann sehr verschieden sein – je nach den momentanen persönlichen Umständen.

Am besten wird sich das bei mehreren Besuchen der Ausstellung im SCHAUfenster für aktuelle und regionale Kunst erweisen. Bis zum 31. März besteht die Gelegenheit dazu.

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Ulrich Schnelle,Schlitten, Öl/Papier

Ulrich Schnelle,Wahl, Blei, Öl/Papier

Ulrich Schnelle, o. T., Mischtechnik

Ulrich Schnelle, Narrenschiff, Öl/Leinwand

Februar 2015

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Michael Schildmann, o. T., Fotografie

Sabine Nasko, Michael Schildmann

Keramik und Fotografie

Im dargestellten Gegenstand liegt die Verbindung von zwei nahezu diametral entgegengesetzten künstlerischen Welten.

Einzelne plastische „Gewächse“ und Bilder von Nutzpflanzenfeldern begegnen sich im Februar in der Sezession Nordwest unter dem Titel Keramik und Fotografie. Von Hand aus einer weichen Tonmasse geschaffene Gebilde einerseits und mit der Digitalkamera aufgenommene Landschaftsausschnitte andererseits – archaisch gefühlsgeladen die eine und hoch entwickelt modern die andere Technik.

Die plastischen Arbeiten stammen von Sabine Nasko aus Stuhr. So fremdartig ihre Schöpfungen sind, so unbekannt scheinen deren Herkunftsort und Entstehungszeit. Die Werke spiegeln eine große Freude am freien Spiel mit Lebensformen, die in unserer Welt kaum anzutreffen sind. Vielmehr könnten sie bei einem Tauchgang mit einem „Yellow Submarine“ begegnen. In einer Welt also, die der Fantasie entspringt und selbst Raum für alle erdenklichen kreatürlichen Freiheiten bietet. Eine geradezu idyllisch-kindliche, heile, weil Hoffnung verheißende Welt.

Dass die Künstlerin von Unterwasserwelten inspiriert ist, bezeugt sie mit zahlreichen Titeln: So gibt es Meerlinge, die zuweilen den Anschein von Korallen haben, Stacheligel mit kugeligen Körpern und spiralig gedrehten oder gestuften Auswüchsen, Grundläufer, die rundliche Körper auf teils elefantösen Beinen tragen, und Quallen mit glockenartig oder pilzförmigen Körpern auf starken Tentakeln. Abstrakter wirkende Formationen wecken die Vorstellung von Zellhaufen, Laich oder Kakteen – Lebensformen außerhalb des Wassers.

Die Oberflächen sind individuell beschaffen – glatt oder unterschiedlich strukturiert, in verschiedenen Farben und mit Linien versehen. Mit diesen Mitteln kreiert die Künstlerin ein großes Arsenal sehr verschiedenartiger und doch anschaulich verwandter amorpher Formationen in einem ganz eigenen Bereich zwischen abstrakter Fremdheit und konkreter Existenz.

Im Gegensatz hierzu führt uns der Oldenburger Michael Schildmann unter dem Motto Natur – Struktur – Zeit in seinen Landschaftsfotografien ausgewählte Bereiche der realen Umwelt vor Augen. Streng beschnitten auf ein Motiv sind mit nüchternem, sachlichem Blick landschaftliche Bereiche über die Jahreszeiten eingefangen. Die Aufnahmen sind unmanipulierte Zeitdokumente der Gegenwart, die in ihrer Schärfe keine visuellen Unklarheiten beinhalten und damit jegliche Fantasie aus dem Bildfeld verbannen. Keine fremdartige Blume, kein anderes Gewächs erhebt sich aus dem gleichartigen Meer von kräftig grünem Getreide. Heu auf abgeernteten Feldern bildet eine homogene Struktur, und selbst die Krumen des unbebauten Bodens sind gleich groß.

Der Mensch als „Schöpfer“ dieser Kulturräume hat allenfalls Spuren hinterlassen: parallele Traktorfurchen. In dieser künstlichen Welt bleibt der Natur kaum Spielraum, vielleicht noch im changierenden Licht des Wolkenspiels oder in der Bewegung eines hügeligen Geländes.

Große Bedeutung hat die Farbe, wobei die Monokulturen die Farbpalette auf einen Lokalton reduzieren. Die Schärfe jedes einzelnen Halmes bei der Nahsicht weicht der Wahrnehmung einer übergeordneten Struktur bis zur gegenständlichen Auflösung und Transformation in eine abstrakte monochrome Farbfläche aus der Entfernung.

So verschieden, ja geradezu gegensätzlich die Werke von Sabine Nasko und Michael Schildmann sind, so spannend, inspirierend und aufschlussreich ist ihre Gegenüberstellung – bis zum 4. März im SCHAUfenster für aktuelle und regionale Kunst.

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Sabine Nasko,
Meerling, Keramik

Sabine Nasko,
Anemone, Keramik

Michael Schildmann,
o. T., Fotografie (Ausschnitt)

Michael Schildmann,
o. T., Fotografie

Januar 2015

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Christa Marxfeld-Paluszak, freunde von nebenan, Ausschnitt

Christa Marxfeld-Paluszak

Geheimnis der Sternstunde

Menschliches Leid und andere Probleme stehen im Fokus ihrer Kunst

Neben ihrer künstlerischen Arbeit ist Christa Marxfeld-Paluszak seit vielen Jahren für ihr soziales und kulturelles Engagement bekannt. Dafür verlieh ihr die Oldenburgische Landschaft im Frühjahr die Ehrennadel; bis zum 27. Februar läuft ihre Ausstellung im Sozialgericht Oldenburg im Elisabeth-Anna-Palais. Und am 8. Januar leitet sie mit aktuellen Arbeiten das Ausstellungsjahr 2015 in der Sezession Nordwest unter dem Titel Geheimnis der Sternstunde ein.

Dass die soziale Komponente in der Malerei von Christa Marxfeld-Paluszak nicht nur thematisch eine Hauptrolle spielt, bezeugt der Umstand, dass die künstlerische Form von zweitrangiger Bedeutung ist. Wichtig ist diese insoweit, als mit ihr Inhalte und Befindlichkeiten visualisiert und transportiert werden. Die bei aller Abstrahierung letztlich einem Realismus verbundenen Bilder schildern keine theatralisch-dramatischen Übersteigerungen unangenehmer wie bedrohlicher Situationen, sondern verkörpern sie vornehmlich auf atmosphärisch verhaltene Weise. Der maßgebliche Ausdrucksträger ist die Farbe, die – fast singulär wie etwa im Falle von freunde von nebenan – einen Grundton erzeugt. Hinzu gesellen sich einzelne Farbakzente, die diese Grundstimmung wie pointierte Einzelklänge oder Akkorde als Kontraste, Unterbrechungen oder gar Betonungen überlagern.

Zeichnung und Linie: Diese grafischen Elemente erhalten einen nur unbedingt erforderlichen Raum zugewiesen. Ihr scharfgratiger, separierender Charakter ist mit Versöhnung, Aufklärung, Annäherung – also mit Menschen überfassenden und verbindenden Eigenschaften und Bildzielen nicht vereinbar. – Wie er im übrigen auch mit der Person Christa Marxfeld-Paluszak selbst kaum in Einklang steht.

In Befreiung ist der Realitätsbezug zugunsten eines abstrakten Farbgefüges aufgehoben. Wie in einem grauen Umfeld gefangen, scheint sich eine amorphe Form hieraus befreien zu wollen. Ihre orange-rot-blaue Färbung assoziiert eine Lebensform, die aufgrund ihrer abstrakten Gestalt von jedem Betrachter selbstbezüglich interpretiert werden kann. Die Malweise bezeugt eine spontane Niederschrift. Es wird nicht lang(atmig) abgewägt, vorentworfen oder detailliert geplant. Und ebensowenig ist es die intellektuelle Auseinandersetzung mit einem Thema, die zur künstlerischen führt. Vielmehr resultiert sie aus emotionaler Ergriffenheit. Wie ein Ventil, so sind diese Bilder weniger Ergebnis einer rationalen Überlegung als vielmehr das eigentliche Aktionsfeld, auf dem die Auseinandersetzung stattfindet und als malerische Spur sichtbar bleibt. Ein Bildfeld der (auch eigenen) Befreiung – geschaffen wohl auch, um nicht selbst erdrückt zu werden.

Nicht zuletzt aus aktuellem weltgesellschaftlichen Anlass stellt sich die Frage, wo das Nebenan der freunde von nebenan liegt. Sind es unmittelbare Nachbarn oder ist in ihnen – vielleicht auch durch die dunkle Farbigkeit bedingt – ein aus der Ferne geflohener „Freund“ zu sehen, der sehr nah an uns herangetreten ist und uns mit offenem, interessierten Blick anschaut. – Oder sind wir ihm sehr nah entgegengekommen? Bis zum 3. Februar lässt sich nicht nur dieser Frage in der Sezession Nordwest genauer auf den Grund gehen.

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Christa Marxfeld-Paluszak,
Befreiung, Mischtechnik

Christa Marxfeld-Paluszak,
freunde von nebenan, Mischtechnik

Christa Marxfeld-Paluszak,
einsamer protest, Mischtechnik

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